Um den Sommer noch ein bisschen festzuhalten, will ich eine Szene aus der Schattenblau-Saga posten, die im Meer spielt. Taucht ein!
Sein Ärger trieb ihn an. Seit Lilli ins Boot gesprungen war, hatte er ein Problem. Er hatte sich blitzschnell entscheiden müssen: Entweder Louis’ Leben aufs Spiel setzen, indem er Zeit verlor, so tat, als sei er ein normaler Mensch und den Taucheranzug anlegte, der ihn nur behinderte. Oder sein Geheimnis preisgeben, indem er einfach sprang.
Verflixt unnötig. Wäre sie doch nicht just da aufgetaucht. Ein paar Halbwahrheiten würde er improvisieren müssen, denn sie war nicht dumm. Doch jetzt kam es auf jede Sekunde an.
Durch das diaphane Blau sah er in der Ferne die Umrisse des anderen Bootes. Es hatte den Anker geworfen. Alex schätzte die Tiefe des Wassers auf 40 Meter. Es war klar und er erkannte deutlich den felsigen und von kleinen Schluchten durchzogenen Meeresgrund. Bunte Fische zogen um die Felsen und sammelten sich in Schwärmen an ihren Nahrungsplätzen.
Alex schwamm flink über die Unterwasserlandschaft hinweg. Sie zeigte an manchen Stellen Spuren des Bebens. Vom Sog herausgerissene Algenbüschel, die sich mit den letzten Wurzelfäden an den Meeresboden klammerten; kahle, von Rissen durchzogene Steinplatten am Grund und Felsen, wie von einem Riesenhammer zertrümmert.
Schwerelos glitt er durchs Wasser, ein Raubfisch mit wachen Sinnen. Wie still diese Welt im Gegensatz zu der oben war! Es war aber keine vollkommene Ruhe. Ein immerwährendes Raunen, Kratzen und Knacken drang an seine Ohren und verschmolz zu einer an- und abschwellenden marinen Geräuschkulisse.
Er schloss die Augen, konzentrierte sich. Wasser trug Informationen über große Entfernungen hinweg und er hatte gelernt, die verschiedenen Botschaften des Wassers zu unterscheiden und zu entziffern, sie zu lesen – wie in einem Buch. Über seine Haut spürte er Lebewesen, die weiter entfernt waren. Auch die Botschaft eines Lebewesens in Not. Angst veränderte das Wasser auf eine ganz bestimmte Weise.
Doch sosehr er sich auch bemühte, nichts Ungewöhnliches geschah. Nichts, was nicht zum täglichen Kampf um Leben und Tod hier unten gehörte. Mehrere Kilometer Richtung offenes Meer machte eine Delfinschule Jagd auf Fischschwärme. Er spürte den Kampf Tausender Fische, die in die Enge getrieben wurden, hörte das entfernte Schnattern und Klappern der Delfine, die sich während der Jagd singend verständigten. Sie spielten noch. Sehr bald schon würde ihr Spiel zu tödlichem Ernst werden. Weit draußen Tausende anderer Wesen, die sich nicht fortbewegten. Vielleicht eine Muschelbank. Sie starben. Mit letzter Kraft gaben sie leise Laute von sich, die einem Stöhnen glichen.
Seine Achtsamkeit galt jedoch einem menschlichen Todeskampf.
Die Landschaft veränderte sich. Der Meeresboden senkte sich ab und zerklüftete Gesteinsformationen türmten sich vor ihm auf. Ein riesiger Mantarochen flog von einem Felsrücken auf und umkreiste Alex mit langsamen, fast träumerischen Flügelschlägen, als wolle er auskundschaften, was da für ein merkwürdiger Fisch kam. Alex schaute dem Sieben-Meter-Koloss nach, wie er in die Dunkelheit des offenen Meeres davonschwebte.
Rasch umschwamm er eine Felsformation nach der anderen und gelangte plötzlich an eine frische Abbruchkante. Dieser Hang war noch nicht lange hier. Als sich während des Bebens Land ins Land geschoben hatte, musste hier unten gleichzeitig der Meeresboden aufgerissen worden sein. Eine Schlucht war entstanden.
Der finstere Schlund, über den er schwebte, schien endlos tief. Eisige Kälte leckte an seinem Körper wie die Bahn einer Tiefenströmung. Es konnten 500, aber auch 5.000 Meter sein. Selbst er, der in der schwärzesten Schwärze noch etwas erkennen konnte, sah den Grund nicht. Wenn ein Mensch da hinuntergeriet, brachte ihn der Druck auf alle Fälle um, dachte er. Sorge packte ihn. Für Menschen, selbst für geübte Sporttaucher, war bei etwa 100 Metern Schluss und an dieser Grenze war er jetzt angekommen. Wohin hätte Louis schwimmen können? War er auf die Schlucht gestoßen, hatte seine wissenschaftliche Neugierde ihn hinuntergetrieben? Alex konnte es ihm nicht verdenken, wie oft bekam man schon eine frische Abbruchkante an einer Kontinentalplatte zu sehen? Es blieb nur die Schlucht. Und das bedeutete, Louis war tot.
Alex sah verzweifelt in den schwarzen Abgrund. Lillis Gesicht tauchte vor ihm auf, ihre von Kummer erfüllten Augen. Es war, als könne er diesen Schmerz selbst spüren.
Mit bangem Herzen schaute Alex ins dunkle Nichts unter ihm und der Gedanke, der ihm dabei kam, schnürte ihm die Kehle zu. Er hatte Louis nicht retten können.
Er würde ihn suchen, so weit tauchen, bis er ihn fand, und er würde ihn hochbringen. Das schuldete er Lilli.
Alex begann den Abstieg.